Dr. Stefani Lucci - Kunsthistorikerin/Redakteurin
Glänzende Fleischberge wie in einer Wursttheke übereinander geschichtet, körperliche Massen, die an Rollbraten erinnern, speckige Leiber, die wie gerupfte Hühner aussehen. Rolf Ohst’s Faszination für immense Fleischlichkeit und deren spezielle Präsentation lässt sofort Roald Dahl’s bitterböse Erzählung Schwein wach werden, in der ein zurückgezogen lebender Vegetarier in die Stadt kommt, Fleisch lieben lernt, um flugs selber verwurstet zu werden. Wenn da nicht zusätzlich die dezidierten Motive wären, die Rolf Ohst der Kunstgeschichte entleiht.
Ob Botticelli’s Geburt der Venus, Giorgiones Venus in einer Landschaft oder Tizians Venus in bürgerlichem Interieur über die Akte von Rubens, Rembrandt, Manet, Renoir, Modigliani, Matisse bis hin zu Cézanne oder Corinth, Rolf Ohst zitiert sie alle. Dabei übersteigert er barocke Fülle ins Extrem, malt Botticelli’s Venus in anmutig zitternder, schüchterner Fettleibigkeit und platziert seine Figuren gerne am Meer vor dramatischen barocken Wolkenhimmeln, die ebenfalls die Seestücke der Niederländer lebendig werden lassen, wobei die Figuren im Duktus der Klassischen Moderne gehalten sind. Wenn er dann auch noch eine ruhende fette Schönheit, die stark an einen gestrandeten, nach Luft schnappenden Wal erinnert, mit Edward Munch’s berühmtem Schrei betitelt, ist das Sampling perfekt. Rolf Ohst gelingt es, respektlos, frech und humorvoll in bester Tradition an die Aktmalerei anzuknüpfen und sie in Zeitgenossenschaft zu überführen.
Dr. Christiane Reipschläger - Kunsthistorikerin
Rolf Ohst frappiert mit seinen ungewöhnlichen Motiven, die durch körperliche Fülle oder starke Gestik oft wuchtig und äußerst präsent erscheinen, aber auch mit seiner in vielen Jahren geschulten Technik der realistischen Malerei. Sowohl die scharfe Beobachtungsgabe als auch der ungewöhnliche Blickpunkt kommen in den Gemälden, Radierungen und Zeichnungen des Künstlers zum Tragen und eröffnen dem Betrachter Einblicke in eine meist intime, oft beunruhigende Welt der dargestellten (Akt)Figuren.
In seinen neuen Arbeiten, die ab 2004 in Berlin entstanden sind, konzentriert sich Rolf Ohst ganz auf das Thema Mensch. Äußerst präsent und zum greifen nahe präsentiert er dem Betrachter seine Protagonisten in der vordersten Bildebene. Mal witzig, mal grotesk, mal erotisch sind die Situationen, in denen er sie darstellt, manchmal auch schon ihre Körper, denen er sich mit großer Detailfreude widmet. Trotz der Unmittelbarkeit und Direktheit ist immer ein zweiter Blick notwendig, um die Bildinhalte zu erfassen, eine zweite Sinnebene zu verstehen, die konnotierte Metapher zu begreifen. Das Reale bekommt bei Rolf Ohst surrealistische Züge und bleibt doch real.
Der menschliche Körper - die Monumentalität der barocken Rundungen
Rolf Ost gestaltet u. a. üppigste Formen, schwellenden Frauenkörper mit riesigen Gliedmaßen. Die florentinischen Maler entdeckten in der Renaissance die Raumperspektive und das Voluminöse. Der menschliche Körper nahm immer plastischere Formen an, von Giotto über Masaccio bis Michelangelo. Die Monumentalität der barocken Rundungen – immer auch Ausdruck von Sinnlichkeit – haben Caravaggio oder Rubens lange vor Ohst auf ihre Weise dargestellt. Als älterer Zeitgenosse schuf Lucian Freud vergleichbare Formen, jedoch wirkt die Haut seiner massigen Modelle teigig und schlaff, während Ohst’s voluminöse Akte eher prall und glänzend erscheinen.
Rolf Ohst - moderner, zeitgenössischer Realismus
Rolf Ohst entstammt dem Kreis der Hamburgischen Realisten, eine künstlerische Strömung, die mit der Künstlergruppe ZEBRA entstand. Sie wurde von Dieter Asmus, Peter Nagel, Dietmar Ullrich und anderen 1965 gegründet. Ihr Ziel war, einen „modernen, zeitgenössischen Realismus“ zu schaffen und dies der abstrakten Kunst entgegen zu setzen. Denn es war die Zeit, in der Tachismus und Action Painting die Kunstwelt prägte und international Erfolge feierte. In ihrem Manifest „Der neue Realismus“ forderte die Gruppe ZEBRA bezüglich der Darstellung von Figuren u. a. „Körperplastizität, glatte Oberfläche, Lokalfarbe, Zentralperspektive, Mittelkomposition, Exponierung der Figur.“ Also Parameter, die die Maler der italienischen Renaissance erfunden hatten und die die Surrealisten und nun die Hamburgischen Realisten wieder aufgriffen. Während seines Studiums in den späten 1970er Jahren an der Hamburger Hochschule für bildende Künste erlernte und perfektionierte Rolf Ohst diesen abbildenden Malstil. Er studierte vor allem als Schüler von Rudolf Hausner, einem Hauptvertreter der Wiener Schule des Phantastischen Realismus.
Mittelpunkt des Werks ist der Mensch
Aufbauend auf diesen Wurzeln hat sich Ohst seit seiner Übersiedlung nach Berlin 2004 einen ganz neuen Themenkreis erarbeitet. Während er früher zu den sachlichen Realisten gehörte und meist Gegenstände oder Landschaften malte, steht heute der Mensch im Mittelpunkt seines Interesses, geweckt durch die Menschen in der Stadt Berlin, durch die Energie, die in dieser Stadt zu spüren ist und die ihn – wie er selber sagt - wie eine Welle erfasst hat. So sind seine neuen Werke am besten mit dem Begriff „emotionaler Realismus“ zu umschreiben.
Kompositorisch lassen sich zwei Arten von Szenerien unterscheiden: Interieur-Szenen, in denen meist eine einzelne Figur vor eine Wand gesetzt und manchmal durch ein weiteres Attribut wie einen Tisch oder ein angedeutetes Bett in einen Innenraum verortet wird. Oder aber die Figuren bewegen sich draußen in einer Landschaft wie einem Strand, einer Landstraße oder auch einer Sumpf- oder Wüstenlandschaft. Manchmal ist aber nur der Himmel zu sehen oder wie in „Der Durchbruch“ ein Innenraum mit einem Ausblick in eine Landschaft. Die Bildmaße der in Öl auf Leinwand gemalten Arbeiten reichen von wenigen Zentimetern bis zu 3 Meter Länge.
Akte bilden einen Schwerpunkt innerhalb des Oeuvres. Das 2004 entstandene großformatige Gemälde „Die Welle“ bildete den Auftakt zu einer Reihe von Aktbildern. Lang hingestreckt offenbart sich der von der Seite betrachtete Frauenkörper dem Betrachter in all seinen Fettmassen, Rollen und Falten, stellt sich diesem gewissermaßen in den Weg indem er nahezu das gesamte Querformat einnimmt und den Blick aufs Meer weitgehend blockiert. Dass die nackte Dame sich wegen ihrer Fettleibigkeit kaum noch bewegen kann, erleichtert den voyeuristischen Blick. Eine Familie befindet sich ebenfalls am Strand, ignoriert die Frau jedoch. Rolf Ohst spitzt die Situation zu, denn auf den zweiten Blick erkennt der Betrachter das Holzkreuz, auf dem die Dicke mit ausgestreckten Armen bereits liegt. Die herannahenden schwarzen Wolken scheinen ebenfalls Vorboten eines drohenden Unheils und können als weitere Anspielung auf die Kreuzigung Christi gedeutet werden.
Die Protagonisten der Bilder - Täter und Opfer zugleich
Die Spieglung der heutigen Gesellschaft ist nicht zu übersehen: Unmäßigkeit, Fresssucht und Macht. Die Protagonisten der Bilder sind Täter und Opfer zugleich.
In dem Gemälde „Strömung“ von 2007 greift Ohst das Thema des dicken Frauenakts am Strand wieder auf. Diesmal ist der raumfüllende, liegende Akt in Bewegung, rollt ins flache Wasser und scheint nur von zwei Holzpflöcken aufgehalten zu werden. Ein Seehund taucht unter dem langen dunklen Haar der Frau auf und schaut zum Betrachter, während sie den Kopf abwendet. Der Männerakt im Hintergrund und ihre geöffneten Schenkel verstärken eine sexuelle Konnotation in die sich Ekel mischt. Ebenfalls zu dieser Bildreihe gehört das Gemälde „XXL“ von 2006, das mit Maßen von zwei mal drei Metern das größte ist. Die Faszination des Hässlichen ist mit diesen unmäßig fetten, mit Pusteln überzogenen, sich übereinander wälzenden Frauenkörpern, die den Betrachter wie eine Wand aus Menschenfleisch bedrängen, ins Groteske gesteigert.
Erfrischend „normal“ präsentieren sich dagegen zwei Akte in „Weltweit“ von 2005. Ein Liebespaar läuft auf einer Landstraße heimwärts – der Betrachter sieht sie nur noch von hinten. Ihre Figuren ragen groß vor der flachen Landschaft auf. Die leichte Untersicht scheint aus der gerade von ihnen verlassenen Position zu stammen. Frau und Mann tragen die Kleider in der Hand, er hat seine Turnschuhe noch an. Abendsonne und dramatische Wolken bilden die Kulisse der friedlichen Szene, einziges Anzeichen der Zivilisation ist ein Telegraphenmast am Wegesrand, der auf den Titel des Bildes anzuspielen scheint.
Das surrealistisch anmutende Gemälde „Aus eigener Kraft“ von 2006 unterscheidet sich sowohl das Sujet als auch die Malweise betreffend deutlich von den anderen Aktbildern. Ein wie auf dem Rücken liegender Männerakt, ein Selbstbildnis, schwebt frei im Raum. Die Arme sind am Körper angewinkelt, die Augen geöffnet. So scheint der Akt wie aus Zauberhand in eine unwirtliche Moorlandschaft versetzt, die in Braun- und Grautönen mit noch sichtbaren Pinselstrichen mehr angedeutet als zu ende gemalt ist.
Frauenakte wie niederländische Genrebilder des 17. Jahrhunderts
2007 widmete sich Rolf Ohst zwei weiteren Frauenakten, die unterschiedlicher nicht sein können. Wie in einem niederländischen Genrebild des 17. Jahrhunderts präsentiert er eine sehr rundliche Frau wie sie ein Weinglas zum Mund führt (dreiviertel Ansicht, diagonale Körperhaltung, braungrüner Hintergrund) – nur ist die Dame nackt. In dem kleinformatigen Bild „Pati“ räkelt sich eine junge Frau auf weißen Laken mit geöffneten Schenkeln und blickt den Betrachter herausfordernd an. Um eine vor allem erotische Wirkung geht es auch in dem Ölbild „Venus im Skorpion“ von 2008. Die in weißer Spitze posierende Schöne offenbart den Reiz zwischen Ver- und Enthüllen.
Interessant ist ein Vergleich mit einem Frauenakt, den Ohst bereits 1983 schuf. In dem Gemälde „Die Schwiegermutter“ liegt eine ältere Dame in würdevoller Haltung nackt auf einem braunen Ledersofa, dahinter ist ein weißes Leinentuch vor die farbige Wand gespannt. Abgesehen von Haltung und Haarfarbe der Frauen könnten die Bilder nicht unterschiedlicher sein, trotz der brillanten Technik mit der Ohst die unterschiedlichen Oberflächen und Texturen wie Haut, Leder Stoff, Tapete etc. wiedergibt. Auffällig ist die motivische Ähnlichkeit des „Schwiegermutter“-Bildnisses mit Lucian Freuds zwölf Jahre später entstandenem Aktbild „Benefits Supervisor Sleeping“ (1995), welches ebenfalls ein Sofa, auf dem eine ältere Frau lagert, raumfüllend ins Bild setzt.
Einen bedrohlichen Zustand zeigt das Gemälde „Die Toteninsel“ von 2006, das das Thema von Arnold Böcklins berühmtem, in der Neuen Nationalgalerie befindlichem Bild aufnimmt und zitiert. Im Vordergrund erscheint das Antlitz von George W. Bush, das sich aufzulösen scheint. Es ist sein Gesichtsausdruck als er von der Katastrophe des 11. September erfährt: Ein Tag mit vielen Toten. Es scheint, als sei auch er bereits am entschwinden in das Reich der Toten.
In dem halbfigurigen Bildnis einer Frau, „Good Morning“ von 2007 hat die hinter einem Tisch oder einer Ballustrade stehende Frau mit Sonnenbrille die Arme resolut in die Hüften gestemmt als wollte sie das vor ihr auf dem Teller liegende Stück Speck und den grünen Likör verteidigen und damit gleich ihren amerikanischen Lebensstil. Zwei Selbstbildnisse entstanden ebenfalls 2007. „Shadow“ zeigt die Büste eines Mannes, der Kopf und Augen vor der gleißenden Sonne mit einem Tuch schützt, so dass die Augen von diesem verdeckt werden. Das intensive Sonnenlicht und die turbanartige Kopfbedeckung erwecken Assoziationen mit der Wüste und der Hitze, die dort herrscht. Statt die Erleuchtung zu erlangen, sieht der Mann nichts, scheint „in der Wüste“ zu stehen, vielleicht fühlt er sich (der Künstler) auch wie der „Rufer in der Wüste“.
In „Störfall“ porträtiert sich Rolf Ohst gleich doppelt. Vor einer apokalyptischen Landschaft erscheint seine Büste zweimal leicht versetzt nebeneinander. Die Gesichter zeigen zwei verschiedene Zustände eines Vorgangs: links versucht er die Luft anzuhalten, rechts hat er gerade ausgeatmet. Die ausdrucksstarke Mimik erscheint witzig, jedoch hat er in diesen kurzen Augenblicken den Kampf gegen die atomare Verseuchung bereits verloren.
Der Zustand unserer westlichen Gesellschaft - von Kontrollverlust bis Wollust
Rolf Ohst erschafft mit seinen teils surrealen teils genrehaften Menschenbildern Sinnbilder und Metaphern, die den Zustand unserer westlichen Gesellschaft spiegeln und damit auch über uns erzählen. Maßlosigkeit und Gier, Kampfbereitschaft und Gewalt, Blindheit und Ignoranz, Sexualität und Wollust, Hilflosigkeit und Kontrollverlust, aber auch Schönheit und Seelenstärke drücken sich in seinen Bildern aus. Die Kunst von Rolf Ohst überzeugt sowohl durch ihre brisante Aktualität als auch durch ihre technische Brillanz und rührt darüber hinaus an die Parameter allen menschlichen Seins. Das zeichnet sie als eine intelligente Kunst jenseits modischer künstlerischer Strömungen aus.
Gier und Begierde
„FÜRCHTE DICH NICHT“ IST DER TITEL EINES GROSSFORMATES IN ÖL. ABER MAN FÜRCHTET SICH. VOR DER MASSE FRAU, DIE EINEM AUS JEDEM BILD ENTGEGEN DRÄNGT. VOR DEM FETT, DEN GLÄNZENDEN FLEISCHBERGEN, VOR DER SCHIEREN KÖRPERLICHKEIT, DER SCHONUNGSLOSEN SICHT AUF ALLES. ABER MAN KANN DEN BLICK NICHT ABWENDEN. DEN BEGIERIGEN BLICK AUF DAS WEIB.
Was hilft? Rationalisierung, Analyse, Interpretation? Sicher. Rolf Ohst hat Gier gemalt. Die kann man nicht klein malen, daher die großen bis übergroßen Formate. Das „Sich-einverleiben-der Welt“, dieses Hauptthema unserer westlichen Gesellschaft, symbolisiert sich in Fett. Das ist abstoßend, schockierend, ekelerregend und verlockend.
Wir alle sind gierig und vielleicht ist das vor allem Frauen aufoktroyierte Schlankheitsdiktat eine Art soziales Mieder, eine Larve zur Maskierung der Gier. Rolf Ohst lässt dem Fett freien Lauf. Schönt nichts und sieht nicht zur Seite. Und lässt auch dem Betrachter nicht die Wahl. Erschütternd. Wie das bebende Fett seiner Modelle, die alle weiblich sind. Sehr weiblich. Mit üppigen Hüften, wogenden Brüsten, schweren Schenkeln, dicken Bäuchen. Für Ohst Sinnbilder von Mütterlichkeit, Leben und Trieb. Sein obsessiver Blick auf das Weibliche ist seine Inspiration; nicht nur für die Kunst. Aber mit seiner Kunst will er eine Lanze brechen, für die Frau – und gegen die Unterdrückung der Weiblichkeit. Gegen ihre Ausbeutung und Einschnürung. Besonders deutlich wird das in seiner Arbeit „Earth“, die Mutter Erde zeigt: In einer Abraumhalde auf die Knie gezwungen, mit einem lächerlichen Bau eingerüstet und von Arbeitern und Soldaten zum Abbau bereitgemacht. Auf den Seiten des Altarbildes sind Meteoriten zu sehen, quasi die Leben-bringenden Spermien für unseren Planeten. Klappt man die Flügel zu, erscheint die Erde in einem Endzeitszenario aus der Sicht eines Astronauten. Das alles in altmeisterlicher Klasse. Der Hausner-Schüler Rolf Ohst hält sich an die Realität. In Form und Inhalt. Als Maler und Bildhauer.
Dabei zitiert er in seinen Inszenierungen ganz nebenbei die Väter seiner Malerei: Botticelli, Tizian, Rubens, Rembrandt, Corinth und viele mehr. Mit seinen barocken Wolken, den dunklen Seestücken und den üppigen Akten bewegt er sich im Duktus der Klassischen Moderne – die er mit seiner zeitgemäßen und gesellschaftskritischen Interpretation zu einem beeindruckenden Stück Gegenwartskunst macht. Darüber hinaus: Sein Sampling hat Humor.
Allerdings nicht immer. Sein „Vater Unser“ mit einer gekreuzigten, dicken Frau lässt den Betrachter bestürzt zurück. Vielleicht wäre es nicht nur für Psychoanalytiker interessant zu ergründen, warum diese Version eine so viel drastischere Reaktion hervorruft, als ein gekreuzigter Jesus. Rolf Ohst erklärt seine Intention: Das Weibliche wird an‘ s Kreuz geschlagen. Überall. Zu allen Zeiten. Von allen Religionen.
Rolf Ohst schafft es, alles in seinen Bildern zu vereinen: Anklage, Trieb, Lust und Kampf. Gegensätze wie Sinnlichkeit und Abscheu vereinen sich in seinen Arbeiten zu Kunst, die einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Das mag daran liegen, dass Rationalisierung, Analyse und Interpretation allein eben doch nicht helfen. Weil die verfluchten Emotionen... Die Furcht vor dem Weib – die Furcht, so „auszuufern“ - die Furcht, sich gehen zu lassen – die Furcht, nicht geliebt zu werden – die Furcht, die Furcht, die Furcht. „Fürchte dich nicht“ heißt das Gemälde, das an Botticelli‘s Geburt der Venus erinnert. Und man weiß nicht, ob dieser Satz sich an die Frau in Öl richtet oder an die Frau oder den Mann aus Fleisch und Blut. So vielschichtig, wie die Bedeutungsebenen in seiner Malerei sind auch die Titel seiner Bilder. Das ist Absicht. Rolf Ohst will verstören. Er will berühren, entsetzen, erschüttern, erfreuen und stimulieren. Er will, „dass sich was bewegt – im Kopf, im Herz oder sonst wo.“ Und natürlich, wie sollte es anders sein, ist jedes Bild ein Selbstportrait. Es zeigt seine Empörung, seine Liebe, seine Ängste, seine Haltung, seine Gefühle und Gedanken. So wie jeder Künstler sich immer nur selber malt.
So isSt der Mensch
Malerei ist mein Kokain, sagt Rolf Ohst, wenn man ihn nach der atemberaubenden Geschwindigkeit befragt, in der seine Bilder entstehen. Wer ihn beim Malen beobachtet kommt schnell auf den Begriff Highspeed-Malerei.
Er ist kein Künstler, der zurücktritt, sinniert, versucht, korrigiert und verwirft. Er hat das Bild in seinem Kopf vollständig entwickelt und malt es nur noch fertig.
Übersichtliche neun Farben finden sich darauf; daraus mischt er mit routinierter Sicherheit alle Nuancen, die benötigt werden, um seine frappierend realistischen Gemälde entstehen zu lassen. Was man heute in Achtsamkeitsseminaren lernt, praktiziert Rolf Ohst in seiner Malerei schon sein Leben lang. Wenn er malt, dann malt er. Er telefoniert nicht, er spricht nicht - er ist allein.
Das Fühlen spiele dabei eine wichtige Rolle, so der Künstler. Die Stofflichkeit der Dinge, die Struktur von Materialien, die Haptik von Haut – alles gefiltert, gefühlt und fast körperlich erfahren durch die Person des Malers sei es letztendlich, was die Pinselführung ausmacht. „Eine Weintraube muss man schmecken, wenn man sie malt.“
Dieses „Fühlen“ schlägt sich auch in seiner Maltechnik nieder. Die ist keinesfalls klassisch. Das Prinzip vom Hintergrund in den Vordergrund gilt für Rolf Ohst nicht. Der Hausner-Schüler wirft viele Grundtechniken über Bord, so malt er beispielsweise das Hauptmotiv zuerst. Lasiert wird wenig bis gar nicht. Alle Farben werden gemischt und in Prima-Malerei deckend gesetzt. Dazu benutzt er Pinsel, Spachtel und immer wieder auch Federn von Gänsen und Krähen.
Beeindruckend ist die Bandbreite seiner Malmaterialien und -mittel. Für den größten Teil seiner neueren Arbeiten hat er Ölfarben verwendet. Mit der gleichen Virtuosität malt er aber auch in Acryl, Aquarell oder zeichnet große Portraits und Akte mit Kohle.
Der Grund für diese Vielseitigkeit könnte in den achtziger Jahren liegen, in denen er sich der Trompe l´oeil Malerei gewidmet hat, die häufig eine breite Palette verschiedener Techniken und Materialien erfordert. Neben Wand- und Deckengemälden - überwiegend in Schlössern und privaten Anwesen - hat Rolf Ohst auch das Marmorieren mit Farbe und Stuck-Marmor perfektioniert. Aus dieser Tätigkeit entwickelte sich auch seine bildhauerische Arbeit, der er sich bis heute ebenfalls widmet. Als einer der wenigen Künstler weltweit arbeitet er mit Scagliola, also Stuckmarmor, aus der er meist lebensgroße Plastiken formt. Einige diese Werke sind seinem Thema „Gier“ untergeordnet, für das er fette Menschen als Metapher für den alles verschlingenden Konsumhunger Modell stehen lässt. Es entstehen aber auch Figuren von großer Anmut und sinnlicher Schönheit.
Radierungen und Grafiken gehören ebenfalls zum Repertoire des Künstlers, auch wenn er sich heute vorwiegend auf die Malerei konzentriert. In seiner Kupfertiefdruck-Werkstatt sind über viele Jahre sehr detailreiche Radierungen entstanden.
Vermutlich liegt in dieser Hingabe an die Kunst und der Ausschließlichkeit mit der er sich ihr widmet die Kraft seiner Werke. Die Sicherheit und Präzision in der Ausführung ist ganz bestimmt auch das Ergebnis lebenslanger Übung – und dennoch: Auch bei der Betrachtung früherer Arbeiten wird sein offensichtliches Talent für die Malerei deutlich. Gefördert wurde das nie. Kunst-affin war in seiner Familie niemand und dennoch wusste Rolf Ohst schon mit neun Jahren, dass er Künstler werden wird.
Kunst ist allerdings nur in zweiter Linie handwerkliches Können und auch diese Erkenntnis lässt sich bereits an frühen Bildern des Künstlers ablesen. „Mein erstes Geld habe ich mit Landschaftsbildern verdient, aber schon bald schlichen sich Ambosswolken ein. Die kündigen Unwetter an und erzeugen Spannung.“ Gesellschaftspolitische Wirksamkeit wollte Rolf Ohst mit seinen Arbeiten immer erzeugen, wehrte sich aber, die Malerei zu entmystifizieren. Seine Kunst kommt immer subtil daher, Störungen, Brüche, eine Meta-Ebene schleichen sich quasi von hinten an den Betrachter heran und sickern nur langsam hinter die Netzhaut. Viele seiner Bilder sind durchaus wohnzimmertauglich – sie fordern den Betrachter aber auch.
Mit seiner Serie Gier hat er dann sein Lebensthema gefunden. Die Reihe großformatiger Akte schwer adipöser Menschen verhalf Rolf Ohst auch international zu Aufmerksamkeit und Erfolg. Er bildet damit die unersättliche Gier des Homo Sapiens ab, sich den ganzen Globus einzuverleiben und bis zum Platzen zu konsumieren. „Gier ist DAS Problem unserer Spezies, unserer Zeit und unseres Planeten“, so Rolf Ohst. Gemeint ist damit nicht nur die materielle Gier, sondern auch die nach Macht, Sex, Ruhm, Anerkennung und natürlich auch grenzenlosem Reichtum.
Seine neuen Arbeiten mit dem Titel So isSt der Mensch sind ebenfalls vor diesem Hintergrund zu sehen. Auch die Esskultur der westlichen Welt spiegelt den Hunger auf mehr als da ist und mehr als gut ist. Wie so oft machen die Bilder Lust aufs Anschauen. Die Portraitierten vermitteln fast den Eindruck, als säße man ihnen am Tisch gegenüber. Man kann sich vorstellen, was sie wohl erzählen würden, wie sie sich ausdrücken und wie sie über das Leben denken. Oder über uns. Auch das Essen, das sie auf dem Teller haben, lässt Rückschlüsse zu oder überrascht. Es zeigt aber auch, in welchem Überfluss wir schwelgen.
Dass Essen in unserer westlichen Gesellschaft nicht nur Nahrungsaufnahme und Energiezufuhr bedeutet, ist offensichtlich – aber nicht selbstverständlich. Nur wenige Flugstunden von unserem Lieblingsrestaurant entfernt lautet die Frage nicht, was wir essen, sondern ob. Hunger als Folge ungleicher Verteilung ist nur einen Kontinent weit weg. Dagegen kann man etwas tun. Man kann spenden, rücksichtsvoller konsumieren – oder mit den Mitteln der Kunst dazu beitragen, dass die Welt zu einem gerechteren Ort wird.
Sofort stellt sich die Frage: Muss Kunst das? Was ist mit „L´art pour l´art“, der Zweckfreiheit der Kunst? Rolf Ohst stellt dem ein anderes Prinzip der Kunst entgegen: „Die Kunst darf alles. Meine Kunst darf für den Rezipienten schön in seiner banalsten Bedeutung sein, sie darf aber auch Seele und Geist in sich tragen. Sie darf von Bedeutung sein, sonst ist sie belanglos. Ich habe sie mit Bedeutung gemalt – aber ich zwinge niemanden, sie auch zu sehen.“
Auch im Fall der Serie So isSt der Mensch ist die Wahl der Speisen, die der Künstler seinen Modellen vorsetzt, keine Laune. Dass dem Schauspieler im weinroten Samtjackett mit goldener Pfeffermühle und viel Schmuck ein Goldsteak als Gipfel der Dekadenz serviert wird, unterstreicht, wohin das Fehlen von Ernährungs-Ethik uns führt. Ganz im Gegensatz dazu steht Max, der mit Wein und Brot sowie seiner undefinierbaren Nationalität und Religionszugehörigkeit für das Mensch-sein an sich steht. Dass Can, ein kräftiger Kerl mit breiten Schultern, vor einer Mohrrübe sitzt, ist ebenfalls kein Zufall. Der Künstler wollte ihn eigentlich mit einem Burger beglücken – aber Can ist Vegetarier und protestierte aufs Heftigste. Auch Robinho, der an einen Wikinger erinnert, bestand auf seinem Lieblingsessen - Pellkartoffeln. Auf diese Weise flossen die Wünsche der Modelle hin und wieder in die Bildkomposition ein. Es entstand eine zeitgemäße Momentaufnahme der vorherrschenden Essgewohnheiten unserer Gesellschaft.
Dabei stand vermutlich nicht immer der Geschmack der Speisen im Vordergrund. Die Entscheidung, mit welchem Mahl man für alle Ewigkeit auf Leinwand gebannt werden will, ist sicher auch eine Frage des Stils. Ob Kaviar und Champagner der Fürstin mit großem Hut wirklich am besten schmecken, sei dahingestellt. In jedem Fall repräsentiert diese Wahl den „guten Geschmack“. Aber auch der Verzicht auf jegliche Esskultur ist weit verbreitet. Pommes Frites aus der Pappschale und Power-Cola aus der Dose scheint für Lina total ok zu sein. Für Ines standen ganz andere Kriterien bei der Auswahl der Speise im Mittelpunkt. Das Hähnchen auf ihrem Teller ist nämlich ein Broiler und erinnert sie an ihre Kindheit in der DDR.
Warum wir essen was wir essen hat viele Gründe und absolut nicht immer sind wir uns ihrer bewusst. Die Frage des Künstlers: „Was möchtest Du essen?“ hat alle Modelle bis auf einen jungen Mann („mir egal!“) intensiv beschäftigt. Mit welcher Art von Essen möchte ich assoziiert werden? Was ist politisch korrekt, was sieht gut aus, was unterstreicht meine Persönlichkeit, macht meine Werte deutlich oder ist nun mal mein Lieblingsgericht? Selten denken wir so tiefgehend über das nach, was wir uns einverleiben.
Wir sollten aber öfter darüber nachdenken, findet Rolf Ohst und beißt auf dem letzten Bild der 24 Arbeiten umfassenden Serie in eine Frikadelle. Für die musste ein Schwein leiden und sterben, gesund ist sie auch nicht aber das Atelier liegt einsam und der Schlachter ist noch am dichtesten dran. 'Fast Food' eben, das schnell zwischen zwei Pinselstrichen verschlungen werden kann. Es geht ihm da wie vielen von uns, die wir in einer schnelllebigen Zeit leben. Highspeed ist nicht nur der Titel dieser Ausgabe, es ist die Überschrift für das (Über)Leben in einer Industrienation. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die Parallelität von medialer und realer Wahrnehmung, digitaler und analoger Information zwingt uns, effiziente Multi-tasking-allround-perfektionisten zu werden, Selbstoptimierung inklusive. Sinnlichkeit, Sinnhaftigkeit, Lust, Ethik und Besinnung bleiben dabei nur allzu leicht auf der (Renn)strecke.
Auch die Kunst hat ihren Herzschlag erhöht. Gleichzeitig führt sie uns zum Innehalten, das liegt in ihrem Wesen. Und an Künstlern wie Rolf Ohst. Wenn er malt, dann malt er.